Die Angriffe auf MigrantInnen in Hoyerswerda galten als Startschuss für eine Welle der rassistischen Gewalt. Ihnen folgten das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen und die tödlichen Brandanschläge von Mölln und Solingen. Die Politik reagierte darauf mit der Verschärfung der Asylgesetzgebung und stellte Projektgelder zur Verfügung: Durch "akzeptierende Sozialarbeit" sollten rechte Jugendliche vor einer weiteren Radikalisierung bewahrt werden. Einige Betroffene versuchten indes, sich selbst zu organisieren.

Filme

"Die Wahrheit lügt (liegt) in Rostock", orig: "The Truth lies in Rostock" - D, GB/1993/78 min

Die Reportage "The Truth lies in Rostock" beleuchtet die Ereignisse rund um das rassistische Pogrom von Rostock-Lichtenhagen aus vielen Perspektiven. (Quelle: YouTube)

Reportage: Akzeptierende Sozialarbeit mit Neonazis

Mit dem Ansatz der "akzeptierende Sozialarbeit" sollten in den 1990er Jahre rechte Jugendliche vor einer weiteren Radikalisierung bewahrt werden. Dafür wurden u.a. Neonazis aus Hoyerswerda in die Türkei eingeladen. (Quelle: YouTube)

Quedlinburg 1992: Erinnerung 20 Jahre danach

Im September 1992 kam es auch in Quedlinburg in Sachsen-Anhalt zu tagelangen Angriffen eines rechtsradikalen Mobs auf eine Unterkunft für Asylsuchende. Vieles erinnerte dabei an den Herbst 1991 in Hoyerswerda – im Gegensatz dazu stellten sich jedoch in Quedlinburg BürgerInnen der Stadt schützend vor das Wohnhaus. 20 Jahre später entstand ein Film in Erinnerung an die Ereignisse. (Quelle: YouTube)

6 Tage im September: Quedlinburg 1992

Mehrere Tage lang griffen im September 1992 Neonazis und BürgerInnen in Quedlinburg (Sachsen-Anhalt) eine Unterkunft für Asylsuchende an. 20 Jahre danach erinnerte der Dachverein "Reichenstraße" e.V. mit einem Film an die Ereignisse, der über eine Woche lang an wechselnden öffentlichen Orten in der Stadt gezeigt wurde. (Quelle: YouTube)

Hintergrund

Ein Club für rechte Jugendliche - Hoyerswerda als Beispiel der Fallstricke "akzeptierender Sozialarbeit" in den frühen 1990iger Jahren

Nach den Erfahrungen vom Herbst 1991 drängte die damalige Bundesjugendministerin Angela Merkel auf die rasche Umsetzung eines "Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt" (AgAG). Eine gezielte Förderung von Einzelprojekten in Brennpunktregionen sollte zur Deradikalisierung rechtsaffiner Jugendlicher beitragen. Die darin formulierten Ansätze einer "akzeptierenden Sozialarbeit" fanden auch in Hoyerswerda Anwendung. So wurde rechten Cliquen unter der Aufsicht von BetreuerInnen ein eigener Club überlassen. Die Hoffnung, damit die Situation in der Stadt zu beruhigen, erfüllte sich jedoch nicht.

Das "Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt"

Im Zuge der Wiedervereinigung musste auch die Organisation der Jugendarbeit in den neuen Bundesländern umstrukturiert werden. Der wirtschaftliche Umbruch, die Auflösung der Institutionen, die in der DDR für die gesellschaftliche Integration von Kindern und Jugendlichen zuständig waren sowie die großflächige Schließung kommunaler Jugendeinrichtungen beförderten soziale Spannungen. Nicht wenige Jugendliche kompensierten diese Erfahrungen mit der Antizipation nationalistischer und fremdenfeindlicher Einstellungsmuster aus dem öffentlichen Diskurs um die deutsche Einheit. Die Ausbreitung neonazistischer Organisationen und der gleichzeitige Verlust staatlicher Autorität im Osten führten dazu, dass seit 1990 sowohl gewalttätige Ausschreitungen bei Fußballspielen, als auch rechtsradikale Übergriffe sprunghaft anstiegen.

Die Bundesregierung reagierte auf diese Entwicklungen unmittelbar nach dem Pogrom von Hoyerswerda mit der öffentlichkeitswirksamen Präsentation eines „Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt“ (AgAG). Wie Irina Bohn in einem Auswertungsbericht darlegt, sollte durch dieses Modellprojekt versucht werden „gewaltbereite Jugendliche in Maßnahmen der Jugendhilfe einzubinden“ und „den Aufbau von Jugendhilfestrukturen in den neuen Ländern zu unterstützen“. Für einen entsprechenden Ausbau der mobilen Jugendarbeit, die Schaffung von Jugendeinrichtungen sowie erlebnispädagogische und präventiv ausgerichtete Angebote stellte der Bund im Zeitraum von 1992 bis 1994 jährlich zusätzliche Fördermittel im Umfang 20 Millionen D-Mark bereit. Deren Vergabe erfolgte an 123 dauerhafte Projekte in 30 Schwerpunktregionen. Bis 1996 erhielten nahezu alle Projekte nochmals eine Folgefinanzierung, die jeweils zur Hälfte vom Bund und den beteiligten Kommunen getragen wurde.

Bereits die Startbedingungen für diesen „Großversuch“ gestalteten sich schwierig. Die Arbeit mit gewaltaffinen, rechtsradikalen Jugendlichen war wissenschaftliches Neuland, jedoch richteten sich laut dem zweiten Zwischenbericht des AgAG rund 40 Prozent der Projekte an genau dieses Klientel. Dreiviertel von ihnen wurden dabei wiederum einer „sogenannten ,harten‘ Zielgruppe zugerechnet“, welche eine „deutliche politische Orientierung und entsprechend auffälliges Verhalten“ zeigte. Zudem verfügten laut Bohn nur rund 40 Prozent der in den Projekten beschäftigten 400 MitarbeiterInnen (von denen 150 direkt durch das AgAG finanziert wurden) über eine sozialpädagogische oder auf ihre Funktion bezugnehmende handwerkliche Ausbildung. Aus diesem Grund floss etwa ein Viertel des Gesamtbudgets in eine umfassende Dokumentation und Analyse der Projektarbeit. Durch Fortbildungsmaßnahmen sowie den Aufbau eines Netzwerks von regionalen Beratungsgruppen sollten die MitarbeiterInnen auf lokaler Ebene bei der Bewältigung von Problemen und Konflikten unterstützt werden.

Für den Umgang mit den Jugendlichen aus der Zielgruppe verständigten sich die InitiatorInnen des AgAG auf spezifische „pädagogische Leitprinzipien“, die sich beim Phänomen der Jugendgewalt einseitig auf die These einer sozialen Desintegration stützten und ideologische sowie gruppendynamische Prozesse gänzlich unberücksichtigt ließen. In einem Informationsblatt des Bundesministeriums für Frauen und Jugend vom 17.07.1992 heißt es dazu: „Die Erfahrungen in Hoyerswerda zeigen, daß fast alle Kinder und Jugendlichen mit extremen Äußerungen und Verhaltensweisen weder organisierte, noch in ihrem Verhalten verfestigte Rechtsextremisten sind. Versatzstücke des Rechtsextremismus werden vielfach als Provokation verwendet – um also die Aufmerksamkeit anderer, der Öffentlichkeit, auf sich zu ziehen, weil man sich vernachlässigt, unverstanden, ausgeschlossen fühlt. In dieser Provokation versteckt sich in vielen Fällen ein verborgener Hilferuf (...) an die Mitmenschen, sich um die jungen Leute zu kümmern, ihnen bessere Zukunftschancen bereitzustellen und sinnvolle Betätigungsfelder zu eröffnen.“

Aus dem dadurch abgeleiteten Auftrag, die ins abseits geratenen Jugendlichen wieder in die „normale“ Gesellschaft zu integrieren, lag der Fokus der Projektarbeit nicht nur in der Bezugnahme auf deren Lebenswelt. Gleichzeitig sollte vor allem dafür gesorgt werden, dass „keine Stigmatisierung“ der „randständigen Jugendlichen“ erfolgt, auch wenn sie rechtsradikale Einstellungen haben und ausleben. Zudem müssten, wie es in dem Schreiben heißt, „für bereits stigmatisierte Jugendliche (...) systematische Entstigmatisierungsprozesse eingeführt“ und um „ein Verständnis von Jugend als Übergangs- und Experimentierphase“ geworben werden.

Akzeptierende Jugendarbeit in Hoyerswerda

Hoyerswerda wurde ebenfalls als Schwerpunktregion des AgAG ausgewählt. Das Verkennen der gesamtgesellschaftlichen Ursachen für die verstärkte Hinwendung vieler Jugendlicher zur rechtsradikalen Szene und die Vernachlässigung einer klaren Grenzziehung gegenüber neonazistischen Einstellungen und Gruppierungen in der konzeptionellen Ausrichtung prägten somit auch hier die ersten Anstrengungen einer Jugendarbeit nach den Ausschreitungen. Wie Christian Wowtscherk ausführt, versuchte die Stadt zunächst, „die Sorgen der Skinheads ernst zu nehmen, um sie (...) abzuhalten, ihren Frust gewalttätig abzubauen“. Durch die Initiierung von Treffen und Gesprächsrunden mit rechten Cliquen und dem Angebot, ihnen einen eigenen Club zur Verfügung zu stellen, sollte Dialogbereitschaft signalisiert und eine Entschärfung der Lage herbeigeführt werden. Dass deren Aktions- und Gewaltpotential dabei offenkundig unterschätzt wurde, obwohl die Angriffe auf Linke und Nichtdeutsche im Stadtgebiet weiter anhielten, zeigte sich spätestens, als es ihnen gelang, der Stadtverwaltung Zugeständnisse abzupressen. So drohten sie im April 1992, das Rathaus zu besetzen, falls nicht bald eine Einigung über Räumlichkeiten zu Stande käme, woraufhin ihnen zunächst das „Cafe Oben“ im WK 10 überlassen wurde.

Nachdem sie nach einigen Wochen keinen Zugang zum Gebäude erhielten, weil die Schlösser ausgewechselt worden waren, besetzten, laut Wowtscherk, etwa 50 Personen den Club, hissten eine Reichskriegsflagge und warfen Molotow-Cocktails vom Dach. Zuvor hatten sie das Personal einer angrenzenden Diskothek bedroht und Vorräte im Wert von 6000 DM geplündert. Der stellvertretende Bürgermeister Naumann lud anschließend zu weiteren Verhandlungen ins Rathaus ein. Als sich eine Einigung abzeichnete, veranstalteten die BesetzerInnen ein „Versöhnungsfest“ für die Nachbarschaft, um ihr negatives Image wieder aufzubessern. Schließlich verständigten sich die Beteiligten im August 1992 darauf, der rechten Szene das Clubhaus „WeKaZehn“ unter der Aufsicht von drei SozialarbeiterInnen zur Verfügung zu stellen. Wowtscherks Recherchen legen nahe, dass dieses Angebot großen Zuspruch fand. Um eine Kerngruppe, die etwa 50 Personen umfasste, bewegte sich demnach ein Umfeld, das aus mehreren hundert SympathisantInnen bestand. Fortan verfügten lokale rechte Bands wie die Gruppe „Bollwerk“ über eigene Probe- und Veranstaltungsräume. Zudem diente die Einrichtung auch als Treffpunkt der im Dezember 1992 verbotenen militanten Neonazi-Vereinigung „Deutsche Alternative“ (DA).

Die Nazi-Band "Bollwerk" aus Hoyerswerda im
städtisch finanzierten Proberaum

Martin Schmidt, der als damaliger Dezernent für Schulen, Kultur und Soziales maßgeblich an den Verhandlungen beteiligt war, betrachtete diese Entwicklungen in einem Beitrag der Zeitschrift Erziehung und Wissenschaft vom Oktober 1992 nicht mit Sorge, sondern Verständnis und Hoffnung: „Die gewaltgeneigten, nationalistisch gesinnten Jugendlichen der Stadt nutzen – nach langen Anläufen (...) – den kommunalen Jugendclub mit. Sie gründeten dort inzwischen eine Musikband (…) und nutzen den Treffpunkt. Eine neuerliche (…) Konfrontation mit Klubbesetzung im April bewies nicht nur die Labilität der Lage, sondern auch die hohe Empfindlichkeit und den Grad des Mißtrauens. Dauerhaft und vertrauensvoll betreuen seither Sozialarbeiter (…) die Jugendlichen.“ Jene hätten zudem „mit einem Kinderfest an ihrem Stammclub erste Achtung bei der Bevölkerung“ erzielt. „Das sich damit ein wenig normalisierende Selbstwertgefühl verdrängt die Aggressionslust.“

"Akzeptierende Sozialarbeit": Im Proberaum von
"Bollwerk" aus Hoyerswerda

Zeitgleich erscheinende Presseberichte zeichneten indes ein deutlich kritischeres Bild. Ein Artikel des Tagesspiegel vom 29.09.1992 verwies nicht nur auf die Vernetzung des Klubs mit der neonazistischen DA, sondern auch darauf, dass mindestens zwei der für die Einrichtung zuständigen Mitarbeiter offen die Einstellungen der rechtsradikalen Jugendlichen teilen würden. Ein Sprecher des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Frankfurt (ISS), das für die wissenschaftliche Begleitung des AgAG zuständig war und in Hoyerswerda den Aufbau der mobilen Jugendarbeit unterstütze, rechtfertige diesen Umstand. Ziel der Arbeit sei es demnach „Jugendgruppen stabil zu halten, sie nicht zu destabilisieren. Dafür kann es nützlich sein, einen Ansprechpartner zu haben (…), zu dem sie nicht allzu viele ideologische Differenzen haben.“ Dieter Kreft, der damalige Leiter des ISS, sah sich in der Folge zu einer Stellungsnahme veranlasst, in der er u.a. erklärte, dass bei der großen Zahl von AgAG-Projekten nicht ausgeschlossen werden könne, dass „in Einzelfällen auch Mitarbeiter von Trägern eingestellt“ würden, die „für die Arbeit nicht hinreichend qualifiziert“ sind. Sowohl einer der in den Artikeln genannten Betreuer in Hoyerswerda, als auch der Beschäftigte des ISS seien, nach Kreft, im Zuge der Berichterstattung entlassen worden.

Zu Beginn des Jahres 1993 eskalierte die Gewalt rechter Cliquen in Hoyerswerda erneut. In der Nacht vom 19. zum 20. Februar überfielen etwa 20 Skinheads ein alternatives Konzert und verletzten dabei den 22-jährigen Mike Zerna so schwer, dass er wenige Tage später starb. Die Täter gehörten zum Umfeld der Band „Bollwerk“ und dem rechten Jugendclub „WeKaZehn“. Wie aus einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung aus dem Mai 1993 hervorgeht, soll der Club nicht direkt über das AgAG sondern über die Stadt und das Kreisjugendamt gefördert worden sein. Die Lausitzer Rundschau schrieb am 13.12.1993, dass seit dem Vorfall mit Hilfe des AgAG jedoch „sieben Sozialarbeiter und zwei ABM-Kräfte“ in der Mobilen Jugendarbeit beschäftigt wurden. Eigene Räumlichkeiten, sowohl für rechte, als auch alternative Jugendliche, blieben erhalten. Einer der Mitarbeiter äußerte allerdings Zweifel hinsichtlich dieses Konzeptes: „Das sind 100, höchstens 150 Jugendliche, mehr als 14000 Kinder und Jugendliche bleiben unbetreut.“

Kritik und Reaktionen

Die Brisanz einer akzeptierenden Jugendarbeit mit rechten Cliquen war den Initiatoren des AgAG von Anfang an bewusst. Um sich vor einer medialen Kritik abzuschirmen, wurde bereits im eingangs erwähnten Informationsblatt des Jugendministeriums darauf verwiesen, dass die „pädagogischen Leitlinien“ des Programms „im diametralen Gegensatz zu manchen unseriösen Berichten in einigen Massenmedien“ stünden, welche die Öffentlichkeit aufhetzen und „die betroffenen Jugendlichen erst recht in den Terror“ treiben würden. Nicht nur in Hoyerswerda zeigte sich jedoch bald, dass gerade journalistische Recherchen einen großen Teil zur Eindämmung oder Beseitigung von Fehlentwicklungen in den einzelnen Projekten beitrugen.

Neben dem Aufbau eigener Jugendclubs stand vor allem das Konzept kostspieliger „Begegnungsfahrten“ im Rahmen von AgAG-Projekten in der medialen Kritik. Mit dem Ziel einen kulturellen Austausch zu ermöglichen, wurden dabei, wie im Dokumentarfilm „Ostglatzen in Anatolien“ zu sehen, etwa Mitglieder der Hoyerswerdaer Neonazi-Band „Bollwerk“ zu einer Reise mit deutsch-türkischen Jugendlichen in die Türkei eingeladen. Im Dezember 1993 berichtete der Spiegel, dass in Dresden jüdische Mitreisende bei einer gemeinsamen Fahrt nach Israel erst über die Teilnahme organisierter Neonazis im Unklaren gelassen und dann von ihnen bedroht worden waren. Wenig später randalierten westdeutsche Skinheads während einer Ausfahrt in der Stadt und griffen dabei auch die Ausländerbeauftragte an. Sie hatte die Tat jedoch nicht selbst anzeigen wollen, „um Projekte mit rechtsorientierten Jugendlichen nicht (zu) behindern“. Als diese Zustände öffentlich wurden, sah sich der damalige Oberbürgermeister Herbert Wagner veranlasst, weitere Fahrten zu stoppen.

Auf Grund der Vielzahl solcher negativen Vorfälle und Skandale haftete dem AgAG alsbald der Ruf an, „Glatzenpflege auf Staatskosten“ zu betreiben. Der Journalist Frank Dieschner hatte im August 1993 unter dieser Überschrift einen Artikel für die Zeit verfasst, in dem er unter Berufung auf das Polizeipräsidium Rostock ausführte, dass die Jugendgewalt im Umfeld der durch Projektgelder finanzierten rechten Jugendzentren in der Stadt erst zurückgegangen sei, „als die Clubs geschlossen wurden.“ Angela Merkel bemühte sich als Schirmherrin des Programms indes bei vielen Gelegenheiten nachdrücklich darum, auf die Durchsetzung neu formulierter Mindeststandards für die Projekte des AgAG hinzuweisen.

In einer Rede vom 21. September 1994 betonte sie, dass „von den Projekten keine Gewalt ausgehen“ und in den Einrichtungen „keine indizierte Musik gespielt werden“ dürfe. Zudem „darf keine extremistische Propaganda stattfinden und sie dürfen sich nicht als Treffpunkt für organisierte Extremisten mißbrauchen lassen“. Sollten diese Regeln nicht „in einem überschaubaren Zeitraum“ durchgesetzt werden, „kann als letzte Konsequenz auch die zeitweilige oder völlige Schließung eines Projektes erforderlich sein“. Schon vorher wies ihr Ministerium in einer Pressemitteilung vom 27.04.1994 darauf hin, dass in einigen Projekten „die Arbeit mit sog. ,alten Glatzen‘ nicht mehr weiter verfolgt“ würde, „da sie mit Mitteln der Sozialarbeit offensichtlich nicht mehr ansprechbar sind.“ Jedoch wäre „die Betreuung dieser älteren Jugendlichen (...) bei Projektbeginn“ von „besondere(r) Bedeutung“ gewesen, „da sie charismatische Figuren der Szene waren und auf viele Jugendliche eine anziehende Wirkung hatten. Ihre Einbindung (...) ermöglichte es den Mitarbeitern, Einfluß auf die Jugendlichen im weiteren Umfeld zu nehmen und diese ,vor dem Abdriften in die harte Szene‘ aufzufangen.“

Obwohl sich oft gezeigt hatte, dass genau diese Einschätzung durch mangelnde Fachkompetenz und fehlende Abgrenzung in der Praxis dazu führte, dass rechte Kader die Projekte für den Ausbau und die Festigung ihrer eigenen Strukturen nutzen konnten, vermieden auch die für die wissenschaftliche Dokumentation zuständigen Institute eine kritische Reflexion und werteten das AgAG in ihrem Abschlussbericht als Erfolg. Erst in der Rückschau setzte sich eine Sichtweise durch, die diese Art der akzeptierenden Sozialarbeit in Frage stellte. Selbst Franz Josef Krafeld, der als Begründer des Ansatzes gilt, kritisierte in einem Interview mit dem Antifaschistischen Infoblatt im Jahr 1998 die dem AgAG zu Grunde liegende Desintegrationsthese: „In einem Umfeld (...), wo ein großer Teil der Erwachsenenwelt (...) Auffassungen von Jugendlichen teilt – ich denke etwa an diese sogenannten ,national befreiten Zonen‘ in Ostdeutschland – erfahren Jugendliche möglicherweise Bestätigung und Anerkennung. Sie erreichen vielleicht sogar leichtere gesellschaftliche Integration, wenn sie das martialisch und gewaltförmig ausführen, was Erwachsene am Stammtisch reden.“ In Bezug auf die Projektarbeit stellte er fest: „Das ganze Konzept (...) des Aktionsprogramms (...) der Bundesregierung von 1992 war auf tönernen Füßen aufgebaut und hat an manchen Stellen wirklich schlimme Entwicklungen hervorgebracht. (…) Da sehen wir aber auch die politische Verantwortung derer, die gesellschaftliche Probleme zu Jugendproblemen und auch entsprechend pädagogisch umdefinieren. (…) Dieses Konzept wird mißverstanden, wenn Projekte mit rechten Cliquen gemacht werden, die gleichzeitig zur Ausgrenzung und Vertreibung von anderen Jugendkulturen führen.“

Die Sozialarbeiterin und Politikwissenschaftlerin Grit Jelik wies darüber hinaus im Jahr 2000 darauf hin, dass eine Vermeidung der Veränderung von rechten Denkmustern in der Jugendhilfe „die fatale Konsequenz“ in sich birge, “die demokratische Eindeutigkeit der Sozialarbeit in Frage“ zu stellen. Damit würde sie letztlich „ihr eigenes zentrales Ziel – die Lebensbewältigung – selbst karikieren. Denn wie soll ein rechtsextrem orientierter Jugendlicher in der Gesellschaft sein Leben bewältigen, wenn im Schutzraum Jugendtreff durch die SozialarbeiterInnen alle Normen und Regeln der Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden?“

 

Quellen:

„Akzeptierende Jugendarbeit“ Eine kritische Betrachtung. Der Rechte Rand Nr. 67, Nov./Dez. 2000.

Allerorts wächst die Unsicherheit. Zeitschrift Erziehung und Wissenschaft (E&W) Nr. 10/1992.

Bohn, Irian (1997): „Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“. In: Bohn, Irina, Fuchs, Jürgen, Kreft, Dieter (Hg.) (1997): Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt AgAG – Band. 4. Dokumentation der Internationalen Tagung „Jugend und Gewalt“. Münster: Votum Verlag GmbH, S.22-33.

Erklärung des Leiters des ISS-Frankfurt/M., Prof. Dieter Kreft vom 30.09.1992. In: Bohn, Irina, Fuchs, Jürgen, Kreft, Dieter (Hg.) (1997): Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt AgAG – Band. 3. Materialiensammlung aus der öffentlichen Diskussion. Münster: Votum Verlag GmbH, S. 299-300.

Halbzeit im Anti-Gewalt-Programm. Lausitzer Rundschau vom 13.12.1993.

Interview mit Franz Josef Krafeld. Antifaschistisches Infoblatt Nr. 44/3.1998.

Kleine Anfrage der Fraktion PDS/Linke Liste im Bundestag vom 12.05.1993 (Drucksache 12/4906),Thema: Jugendarbeit mit Rechten.

Küss mir die Stiefel. Der Spiegel vom 20.12.1993. #

Ostglatzen in Anatolien – Junge Türken laden Skinheads ein. Dokumentarfilm von Bernd Janssen, 1993.

Pressemitteilung des Bundesministerium für Frauen und Jugend zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt vom 10. Dezember 1991. In: Bohn, Irina, Fuchs, Jürgen, Kreft, Dieter (Hg.) (1997): Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt AgAG – Band. 3. Materialiensammlung aus der öffentlichen Diskussion. Münster: Votum Verlag GmbH, S. 46-49.

Pressemitteilung des Bundesministeriums für Frauen und Jugend über den ersten Zwischenbericht zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt vom 17.07.1992. In: Bohn, Irina, Fuchs, Jürgen, Kreft, Dieter (Hg.) (1997): Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt AgAG – Band. 3. Materialiensammlung aus der öffentlichen Diskussion. Münster: Votum Verlag GmbH, S. 60-68.

Pressemitteilung des Bundesministeriums für Frauen und Jugend über den zweiten Zwischenbericht zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt vom 27.04.1994. In: Bohn, Irina, Fuchs, Jürgen, Kreft, Dieter (Hg.) (1997): Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt AgAG – Band. 3. Materialiensammlung aus der öffentlichen Diskussion. Münster: Votum Verlag GmbH, S. 88-93.

Rechte Helfer zur unpolitischen Frustbearbeitung. Tagesspiegel vom 29.09.1992.

Rede der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Dr. Angela Merkel, auf dem Kolloquium „Kommunale Jugendgewaltprävention“ am 21. September 1994 in Berlin; In: Bohn, Irina, Fuchs, Jürgen, Kreft, Dieter (Hg.) (1997): Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt AgAG – Band. 3. Materialiensammlung aus der öffentlichen Diskussion. Münster: Votum Verlag GmbH, S. 89-107.

Wowtscherk, Christoph (2014): Was wird wenn die Zeitbombe hochgeht? Göttingen: V&R unipress, S. 232-242.

Hintergrund

Rostock-Lichtenhagen im Kontext der Debatte um die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl

Wenige Wochen nachdem im August 1992 Neonazis und AnwohnerInnen durch gewalttätige Angriffe die Räumung der Zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende (ZAST) in Rostock-Lichtenhagen erzwangen, wurde das Grundrecht auf Asyl durch den Bundestag beschnitten. Der Politikwissenschaftler Thomas Prenzel untersucht in seinem Gastbeitrag die Verschränkung zwischen der damaligen Asyldebatte und der Eskalation der ausländerfeindlichen Gewalt. Eine ungekürzte Fassung des Textes findet sich in der Broschüre "20 Jahre Rostock-Lichtenhagen – Kontext, Dimensionen und Folgen der rassistischen Gewalt", die am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock erschienen ist.

Die Debatte über die Einschränkung des Asylrechts

Nicht erst seit der Verschärfung der Asylverfahrensbestimmungen in den 1980er Jahren wurde in der bundesdeutschen Politik über Zuwanderung diskutiert. Angesichts der niedrigen Zahlen von Asylanträgen gegenüber mehreren Millionen Gastarbeiterinnen und -arbeitern und ihren Familien stand diese Form der Migration jedoch lange außerhalb des Blicks der Öffentlichkeit. Als sich aber etwa im Scheitern der Rückkehrförderung zeigte, dass diese Menschen die Bundesrepublik als ihren permanenten Wohnort ausgewählt hatten, die Zahl von Aussiedlerinnen und Aussiedlern aus Osteuropa, die nach dem ethnisch-orientierten Staatsbürgerschaftsrecht Deutschlands Aufnahme fanden, in die Millionen ging (1) und zugleich die Zahl der Asylanträge erheblich stieg, verschärfte sich die Diskussion – auch in Anbetracht der damit verbundenen sozialen und ökonomischen Verteilungsschwierigkeiten etwa von Wohnraum oder Arbeitsplätzen. (2)

In seiner ersten Regierungserklärung von 1982 hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) bereits die Ausländerpolitik zu einem von vier Schwerpunkten erhoben. Im Koalitionsvertrag seiner konservativ-liberalen Regierung hieß es: „Deutschland ist kein Einwanderungsland“.(3) Für eine Einschränkung des Asylrechts plädierten insbesondere Länder und Gemeinden, die die Folgen der erzwungenen Gemeinschaftsunterkünfte, Sozialleistungen und Arbeitsverbote tragen mussten: Jene Maßnahmen wie Essenspakete und Wertgutscheine statt Bargeld, die vermeintliche Armutsflüchtlinge von der Reise nach Deutschland abhalten sollten, waren kostenintensiv für die zuständigen Kommunen. Für Politik und Öffentlichkeit wurde „Asyl“ zu einem Thema von herausgehobener Bedeutung und zum Symbol für Zuwanderung überhaupt.(4)

Anfang 1990 (…) legte die CSU-geführte bayerische Landesregierung im Bundesrat einen Antrag auf Änderung des Grundgesetzes vor, der das Asylrecht als eine individuelle Garantie zugunsten vorschreibbarer Aufnahmekapazitäten genauso wie die juristische Prüfung der Entscheidungen faktisch abschaffte. Asylsuchende sollten nur aufgenommen werden, solange nicht „die Aufnahmefähigkeiten der Bundesrepublik durch den Zustrom der Flüchtlinge im Hinblick auf Unterbringung, Arbeitsmöglichkeiten, Integration und Sicherheit, überfordert werden“. (5) Im Oktober des Jahres folgte die CDU-geführte baden-württembergische Landesregierung im Bundesrat mit einem Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes, der es „den zuständigen Behörden ermöglicht, speziell Asylbewerber aus solchen Staaten, in denen eine politische Verfolgung nicht stattfindet, bereits an der Grenze zurückzuweisen oder ihren Aufenthalt […] unverzüglich zu beenden“.(6) Der Regierung sollte es mit Zustimmung des Bundesrates möglich werden, solche Nichtverfolgerstaaten zu benennen. Klagemöglichkeiten gegen diese Entscheidung wären auszuschließen.(7) Während sich in den Unionsparteien eine relative Geschlossenheit zur Änderung des Grundrechts auf Asyl fand, lehnten dies SPD und FDP als für eine notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit benötigte Partner eines solchen Beschlusses bis 1991 deutlich ab. Stattdessen setzte man auf die Beschleunigung der Asylverfahren und hoffte, die Gründe für die gewachsenen Migrationsbewegungen in den Heimatländern der Flüchtlinge zu beheben. Zudem forderten beide Parteien ein Einwanderungsgesetz für die Steuerung der Zuwanderung abseits der damals einzigen Möglichkeit des Asyls.(8)

Ab dem Sommer 1991 nahm die Intensität der Debatte über die Zuwanderung in das wiedervereinigte Deutschland zu. Während die Zahlen der einwandernden Aussiedlerinnen und Aussiedler wie auch der Asylsuchenden weiterhin stiegen, klagten die Kommunen und Länder über unzureichende Unterbringungskapazitäten. Vielfach waren diese Probleme in der medialen Auseinandersetzung mit Hinweisen auf das Ende einer sozialen, kulturellen und nationalen Aufnahmefähigkeit verbunden. „Die neue Kriminalität in Deutschland hat sich zu einer multikulturellen Kriminalität entwickelt“, hieß es etwa 1992 in der Welt am Sonntag.(9) Unter dem Eindruck der Transformationskrise in den neuen Bundesländern, die mit der Umwandlung der staatlich-kontrollierten Ökonomie der DDR in eine Privatwirtschaft Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit entließ, paarten sich soziale Abstiegsängste mit einem völkischen Nationalismus.

In einer anhaltenden Phase der politischen Desintegration nach dem plötzlichen Zusammenbruch des autoritären und ideologisch-überhöhten „antifaschistischen“ Staates hatten einfache Welterklärungsmuster und extrem rechte Agitation Konjunktur.(10) Die von der Polizei gezählten fremdenfeindlichen Straftaten hatten sich 1991 auf über 2.000 gegenüber dem Vorjahr verachtfacht.(11) Ost- und Westdeutsche sahen 1992 in Umfragen das „Ausländerproblem“ als eines der wichtigsten bzw. das wichtigste Thema überhaupt an. Deutliche Mehrheiten der Bevölkerung taten kund, dass das Asylrecht missbraucht werde, während sich 60 Prozent der Ost- und 40 Prozent der Westdeutschen generell gegen einen zu hohen Ausländeranteil aussprachen. Zwei Drittel aller Befragten befürworteten eine Änderung des Grundgesetzes zur Einschränkung des Asylrechts.(12)

Im Wechselspiel mit der öffentlichen Meinung verstärkten die Unionsparteien ihre Forderung nach einer Änderung dieses Grundrechts. Inzwischen mahnten sie auch eine notwendige Anpassung der deutschen Gesetzgebung an das europäische Recht an, die mit dem für 1993 geplanten Wegfall der Binnengrenzkontrollen eine Harmonisierung der nationalen Asylgesetze erforderlich mache.(13) Wesentlicher Kritikpunkt blieb jedoch eine zu hohe Zahl von Asylsuchenden. Absprachen im Oktober 1991 zur Beschleunigung der Asylverfahren gingen ihnen nicht weit genug; schon kurz darauf legte die CDU einen erneuten Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes vor.(14) Nicht zuletzt auf lokaler und regionaler Ebene hatte die Partei durch die Aufforderung an ihre Mitglieder, aktiv für eine Änderung des Grundgesetzes einzutreten, die Debatte verstärkt.(15) Die Sozialdemokraten allerdings blieben bei ihrer Ablehnung auch noch nach den Wahlen zur Bremer Bürgerschaft im September 1991, als sie den Verlust der absoluten Mehrheit verzeichnen mussten und der DVU der Einzug in das Landesparlament gelang.(16)

Die Situation in Mecklenburg-Vorpommern

Die Auseinandersetzung um das Grundrecht auf Asyl spiegelte sich auch im jungen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern wieder. Bereits im Oktober 1990, wenige Wochen nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, berichtete die Presse von „weitverbreiteten Vorurteilen“ etwa in der Rostocker Bevölkerung angesichts der Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften und der Zuweisung von Migrantinnen und Migranten.(17) Die CDU des Landes stimmte in den unentwegten Ruf nach einer Änderung des Grundrechtes auf Asyl ein. In einer Regierungserklärung im Mai 1992 tat Ministerpräsident Bernd Seite (CDU) kund: „Wer in unserem Land den Kontakt mit der Bevölkerung nicht verloren hat, der weiß: Unsere Menschen sind zutiefst irritiert über den ungebrochenen Zugang von Asylbewerbern, deren Asylantrag vornehmlich auf wirtschaftlichen Motiven beruht.“(18)

Gesäumt wurden solche Äußerungen auch im Nordosten von einer Vielzahl rassistischer Übergriffe auf Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter und Flüchtlinge. Besonders nach den Ereignissen in Hoyerswerda kam es zu zahlreichen Überfällen: Ende September griffen Neonazis in Stralsund, Greifswald, Neubrandenburg und Schwerin Migranten an.(19) Die Landesregierung unterdessen vermied es, von Rechtsextremismus zu sprechen. Ein überparteiliches Bündnis gegen Gewalt, in dem die Landtagsabgeordneten sich solidarisch mit den angegriffenen Flüchtlingen erklären sollten, lehnte die CDU-Fraktion in Schwerin ab.(20) Der Generalsekretär der CDU im Bund Volker Rühe warf der SPD derweil vor, mit ihrer Verweigerungshaltung gegenüber einer Änderung des Asylparagraphen im Grundgesetz erst für „Gewaltbereitschaft“ zu sorgen.(21)

Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen

Am 3. Dezember 1990 wurde im Rahmen der Übertragung der bundesdeutschen Asylregelungen auf die neuen Bundesländer im Stadtteil Lichtenhagen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern eröffnet. In der ZAST sollten sowohl Personen im Asylverfahren, die dem Land vom Bund zur Aufnahme zugewiesen wurden, als auch Direktbewerberinnen und -bewerber, die nach der Einreise in die Bundesrepublik um Asyl ersuchten, untergebracht werden, bevor sie in Unterkünfte in den Landkreisen von Mecklenburg-Vorpommern weiter verwiesen wurden. Als Durchgangseinrichtung verfügte sie über eine Aufnahmekapazität von 200 bis 300 Personen.(22) Musste sie bis Mitte 1991 noch monatlich 60-70 Menschen aufnehmen, die weitgehend vom Bund geschickt worden waren, stieg ihre Zahl in der zweiten Hälfte des Jahres auf durchschnittlich 500 pro Monat an. Von Januar bis Mai 1992 meldeten sich 800 bis 900 und im Juni schon 1.585 Personen bei der ZAST. Die Verwaltung der Einrichtung war auf diese Herausforderung, zurückzuführen auf den Anstieg der Direktbewerbungen, nicht vorbereitet. Aufgrund der Bearbeitungsdauer mussten sich die Flüchtlinge noch länger in der überlaufenen ZAST aufhalten.(23) Auch die zeitweise Unterbringung in Sporthallen der Stadt, in den regulären Flüchtlingsunterkünften Rostocks und sogar in Zelten konnte die Situation nicht wesentlich verbessern.(24)

Für die Asylsuchenden bedeutete dies enorme Belastungen, da sie teils über mehrere Tage hinweg unter katastrophalen hygienischen Bedingungen unter freiem Himmel auf der Wiese vor der ZAST schlafen mussten. Bereits im Sommer 1991 hatte ein Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Deutschland die Zustände in der ZAST als „nicht haltbar“ bezeichnet.(25) Zudem wurden die Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtung immer wieder von deutschen Jugendlichen bedroht.(26) Auch von der einheimischen Bevölkerung in Lichtenhagen wurden die Verhältnisse um das Flüchtlingswohnheim thematisiert. In Briefen und Eingaben an das Schweriner Innenministerium und die Stadtverwaltung äußerten Nachbarinnen und Nachbarn der Asylsuchenden anfangs weniger feindliche Haltungen als vielmehr Sorgen vor einer Eskalation und wünschten eine Besserung oder Behebung der Situation. Die Angeschriebenen reagierten jedoch nicht einmal auf die Forderung nach der Aufstellung von mobilen Toiletten.(27) Angesprochen auf die Frage nach der Verlegung der Flüchtlinge in Unterkünfte der Stadt antwortete der Rostocker Innensenator Peter Magdanz (SPD), dass er dies wohl hätte tun können. Er sah von solchen Maßnahmen jedoch ab, da sie keine Lösung gewesen wären. „Man hätte nur noch mehr Asylbewerber angelockt, ‚wenn man weitere Unterkünfte schaffen würde’.“(28)

Die Lokalpresse spielte (...) eine nicht unwesentliche Rolle bei der Verbreitung von Vorurteilen. Roma aus Rumänien wurden regelmäßig kollektiv als Problem dargestellt.(29) Auch extrem rechte Gruppen waren seit einiger Zeit in Rostock aktiv und thematisierten in ihrer Propaganda einen angeblichen Missbrauch des Asylrechts und eine „Überfremdung“ Deutschlands.(30) Unkritisch berichteten die beiden Rostocker Tageszeitungen (...) von Ankündigungen der Gewalt. Die anonyme Drohung „Am Wochenende räumen wir das Lichtenhäger Asylbewerberheim auf“ unterlegten die NNN mit einer langen Klage über Flüchtlinge und „Asylantenkinder“ sowie der Forderung nach Schließung der ZAST.(31) Der Rostocker Innensenator Magdanz nutzte die Presse unterdessen ein weiteres Mal dazu, „die Herren in Bonn“ zu Gesetzesänderungen aufzufordern.(32)

Mehrere tausend Menschen fanden sich dann am Sonnabend, dem 22. August, vor dem Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee ein und „diktierten aufgeregt Medienvertretern die Situation rund um die ZAST in die Notizblöcke“.(33) Ab dem frühen Abend flogen Steine, Flaschen, Leuchtraketen und Brandsätze gegen die Flüchtlingsunterkunft und das benachbarte Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter, rief eine Menge mehrerer Hundert zum Teil vermummter Menschen Parolen wie „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ oder „Sieg Heil!“. Bürgermeister Wolfgang Zöllick (...) versuchte erfolglos, die aufgebrachten Einwohnerinnen und Einwohner zu beruhigen.(34) Die Angriffe flauten (...) erst gegen 5.30 Uhr ab, als weniger die Polizei als die Müdigkeit über die Randaliererinnen und Randalierer siegte. Am nächsten Tag (...) setzten sich die Ereignisse fort. Tausende Anwohnerinnen und Anwohner klatschten Beifall, boten Schutz und Unterstützung, und Imbissstände sorgten für Verpflegung, während Hunderte die ZAST, das vietnamesische Wohnheim und die Polizei attackierten. Die Staatsmacht hatte die Situation nicht unter Kontrolle, obwohl das Polizeiaufgebot (...) auf etwa 800 Beamte angestiegen war, von denen wegen Ablösungen etwa 350 beständig vor Ort eingesetzt werden konnten. Erstmals stürmten die Rechten an diesem Sonntag bereits das vietnamesische Wohnheim und drangen bis in den sechsten Stock vor, ehe die Sicherheitskräfte sie herausholten.(35)

Am Montagnachmittag, dem 24. August, wurden die Asylsuchenden auf Heime in anderen Städten und Kreisen des Landes verteilt.(36) Die Menschen im vietnamesischen Wohnheim sah man in der Einsatzleitung trotz der Angriffe der vergangenen Tage nicht als gefährdet an.(37) Vor Ort unterdessen spitzte sich die Lage wieder zu. Nachdem sich am Abend wieder tausende Menschen zusammengerottet hatten, geriet die Polizei in enorme Bedrängnis. Während sich die nur drei Hundertschaften, von denen die zwei Hamburger bereits seit mehr als 22 Stunden im Einsatz waren, zurückzogen, blieb das vietnamesische Wohnheim ungeschützt. Rechte legten Feuer in den unteren Stockwerken und drangen bewaffnet nach oben vor, wo mehr als 120 Vietnamesinnen und Vietnamesen, eine Handvoll deutscher Unterstützerinnen und Unterstützer, Wachmänner wie auch ein Kamerateam um ihr Leben bangten. Mangels Schutz durch die Polizei vor der Menge konnte die Feuerwehr erst gegen 23 Uhr, eineinhalb Stunden nach dem Eintreffen in Lichtenhagen, mit den Löscharbeiten beginnen. Die Eingeschlossenen retteten sich in dieser Zeit durch einen Durchgang in die ebenfalls brennende ZAST und von dort aus über das Dach in ein Nachbarhaus vor dem Feuertod. Nachdem die Feuerwehr mit dem Löschen beginnen konnte, wurden die Vietnamesen in Busse geleitet und aus dem Stadtteil eskortiert.(38)

Noch bis zum Ende der Woche wüteten Neonazis in Lichtenhagen, demonstrierten Parolen skandierend durch die Straßen, errichteten Barrikaden und griffen die Polizei an. Die Lokalpresse bewies (...) ihre Verbundenheit mit der Bevölkerung. Seit Beginn der Ausschreitungen hatte sie neben Meldungen über die Empörung aus der Politik jene Stimmungsberichte aus der Bevölkerung gesetzt, in denen die Ereignisse in Lichtenhagen gutgeheißen und als notwendig befunden wurden. „Wenn die Politiker nicht imstande sind, in Lichtenhagen für Ordnung zu sorgen, muß sich der gemeine Bürger eben selber zur Wehr setzen“,(39) war am Montag nach Beginn des Pogroms zu lesen. Zwischen der Reproduktion bekannter Ressentiments verschwamm in der Berichterstattung die Grenze der Legitimation von Gewalt. Schuld an den Ausschreitungen seien die Ausländer gewesen, die sich nicht angepasst, und besonders die Politiker, die sie ins Land gelassen hätten.(40)

Die Einigung auf die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl

Noch bevor es zu den schlimmsten Angriffen am Montagabend kam, wurden die Krawalle bereits als Druckmittel für die seit Jahren diskutierte Änderung des Grundrechts auf Asyl genutzt. „Multikulturelle Utopien verstellen den Blick auf die Realität“, war in den Norddeutschen Neuesten Nachrichten zu lesen. „Hoffnungsschimmer: In Bonn scheint eine Einigung über die längst überfällige Asylrechtsänderung nunmehr in Sicht zu sein. Die SPD schwenkt auf Kurs Grundgesetzänderung ein.“(41) In einer Pressekonferenz am Montag in Rostock sprach Bundesinnenminister Rudolf Seiters nicht über die Sicherheit der Angegriffenen in Lichtenhagen, sondern über den „Mißbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, daß wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben von Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen, und nicht, weil sie politisch verfolgt sind“. Ministerpräsident Berndt Seite kritisierte anschließend, das „Grundproblem muß ja gelöst werden“; die Politik, besonders die SPD, hätte sich mit dem Problem zu lange aufgehalten. „Daß das natürlich teilweise umschwappt, wenn man in der Menge ist, dafür habe ich auch Verständnis.“(42)

In den nächsten Tagen und Wochen setzte damit eine Diskussion ein, in der von Seiten der Befürworter einer Grundgesetzänderung und einiger Massenmedien die zunehmenden rechten Gewalttaten auf Versäumnisse der Politik zurückgeführt wurden: Ursache und Auslöser nicht nur der Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen seien der hohe Zustrom von Flüchtlingen in die Bundesrepublik und die angebliche Weigerung, durch eine Einschränkung des Asylrechts ihre Zahl zu verringern.(43) Am Wochenende des 21. und 22. August 1992 hatte der Parteivorstand der SPD in Petersberg einen „Ersten Entwurf eines Sofortprogramms“ beschlossen, der die Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland befürwortete. Erstmals signalisierte man auch Bereitschaft zur Änderung des Grundgesetzartikels, indem Flüchtlinge aus Nicht-Verfolgerstaaten, die keine persönliche Verfolgung glaubhaft machen könnten, abgewiesen würden. Das individuelle Recht auf Asyl jedoch sollte erhalten bleiben.(44)

CDU und CSU verschärften unterdessen ihren Druck auf die Sozialdemokratie. Mitte Oktober 1992 legten die Unionsparteien und die FDP einen Entschließungsantrag vor, der eine Einschränkung des Grundrechtes auf Asyl durch die Einführung einer Drittstaatenregelung vorsah. Flüchtlinge, die aus einem solchen Land ohne politische Verfolgung in die Bundesrepublik einreisen würden, hätten wie auch straffällig gewordene Bewerberinnen und Bewerber oder jene, die sich nicht kooperativ verhielten, ein verkürztes Verfahren zu erwarten. Gleichzeitig warnte Bundeskanzler Helmut Kohl bei einer fortdauernden Verweigerungshaltung der SPD vor einem „Staatsnotstand“. Diese Notsituation würde die Regierung dazu berechtigen, das Grundgesetz auch mit einer einfachen Mehrheit zu ändern – selbst, wenn sie damit gegen die Verfassung verstoßen würde. Darüber hinaus wandte sich die CDU in einer breit angelegten Anzeigenkampagne im November an die Mitglieder der SPD und warb um ihre Zustimmung zu einer Änderung des Grundgesetzes, um das Asyl für politisch Verfolgte zu „retten“.(45)

Vor dem Sonderparteitag zum Thema Mitte November erklärten sieben Landesverbände der SPD ihre Ablehnung einer entsprechenden Gesetzesänderung. Letztendlich jedoch kam ein Kompromisspapier zustande, das unter dem Eindruck der sozialen Spannungen in Deutschland Entscheidungen forderte, die den demokratischen Rechtsstaat vor Feindschaft gegenüber Einwanderinnen und Einwanderern schützen sollten. Neben Forderungen nach einem europäischen Einwanderungsgesetz und der Fluchtursachenbekämpfung sollten Asylentscheidungen anderer Länder akzeptiert werden, wenn diese die Genfer Flüchtlingskonvention und die Menschenrechtskonvention anwendeten. Dort anerkannten Flüchtlingen sollte an den Grenzen der Bundesrepublik die Einreise verweigert werden. Die von der Koalition vorgesehen Zurückweisung aller Asylsuchenden, die überhaupt aus diesen Ländern einzureisen versuchten lehnte die SPD allerdings ab.(46)

Bei einem Spitzentreffen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP am 6. und 7. Dezember 1992 rückten die Sozialdemokraten allerdings vom Festhalten an diesem Beschluss ab. Im so genannten Asylkompromiss einigten sich die Parteien auf eine Ergänzung des Artikels 16 GG, der die Drittstaatenregelung einführte. Fortan war die Bundesrepublik von verfolgungsfreien Staaten umgeben, aus denen keine Einreise von Flüchtlingen gestattet wurde. Weiterhin wurde die Möglichkeit der Definition sicherer Herkunftsstaaten geschaffen, in denen politische Verfolgung schwer erscheinen würde und von denen aus kein Asylrecht bestände. Zugleich kam man in der Einführung von Kontingentregelungen für Flüchtlinge vor Kriegen und Bürgerkriegen überein, traf Absprachen über Asylsuchende mit langer Aufenthaltsdauer, den Status von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern und Fragen der Einbürgerung. Weiterhin nahmen die Beteiligten sich vor, einen gesetzlichen Rahmen für die Steuerung von legaler Zuwanderung zu schaffen. Ende Mai 1993 wurde das Gesetzespaket unter Protesten der Öffentlichkeit in Bonn beschlossen und trat zum 1. Juli des Jahres in Kraft.

Quellen:

(1) Zogen noch 1984 36.459 Aussiedler in die Bundesrepublik, waren es 1988 bereits 202.673, und in den beiden folgenden Jahren 377.055 sowie 397.073 Personen. Pahlke, Sylvia: Der Asylkompromiß 1992. Diplomarbeit an der Universität Oldenburg. Oldenburg 1999, S. 42.
(2) Nuscheler, Franz: Internationale Migration. Flucht und Asyl. 2. auflage, Wiesbaden 2004, S. 125-126.
(3) Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001, S. 249-250, Zitat auf S. 250. „Aus einer eher kurzfristigen Reaktion auf eine unbekannte, bedrohlich scheinende Entwicklung war so innerhalb von wenigen Jahren ein auch langfristig wirksames Ideologem geworden“, heißt es zusammenfassend in Herbert, S. 262, über die öffentlichen Debatten um die Ausländerpolitik bis Ende der 1980er Jahre.
(4) Herbert, S. 265-271, insbesondere S. 269.
(5) Pahlke, S. 46-47, zitiert aus Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes. Gesetzesantrag des Freistaates Bayern im Bundesrat vom 01.03.1990. Drucksache 175/90, S. 11.
(6) Pahlke, S. 47-48, zitiert aus: Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 16 und 19). Gesetzesantrag des Landes Baden-Württemberg im Bundesrat vom 05.10.1990. Drucksache 684/90, S. 2-3.
(7) Pahlke, S. 47-49.
(8) Pahlke, S. 49-51. Zur öffentlichen Debatte auch Herbert, S. 271-273 sowie S. 298-299.
(9) Zit. nach Pahlke, S. 53. In solchen Berichten wurde regelmäßig auf polizeiliche Kriminalitätsstatistiken von begonnenen Ermittlungsverfahren Bezug genommen, ohne sie kontextbezogen zu interpretieren. So wurden weder Sondergesetze gegen ausländische Personen, die mit der deutschen Staatsbürgerschaft gar nicht begangen werden können, noch eine voreingenommene Ermittlungspraxis durch die Polizei oder die soziale Lage ausländischer Tatverdächtiger berücksichtigt. Vgl. Pahlke, S. 52-54.
(10) Vgl. Funke, Hajo: Brandstifter. Deutschland zwischen Demokratie und völkischem Nationalismus. Göttingen 1993, S. 64-66.
(11) Nicht nur kam es in der Zählung zu Unregelmäßigkeiten und gibt es natürlich immer eine Dunkelziffer von Vergehen, die den Behörden nicht bekannt werden. Darüber hinaus, so Pahlke, S. 56, wurden einige offensichtlich rassistische Straftaten wie Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte nicht dazugezählt.
(12) Diese und weitere Umfragewerte aus dem Sommer und Herbst 1992 in Pahlke, S. 55-59.
(13) Pahlke, S. 66-72.
(14) So wurde entschieden, verstärkt Sammelunterkünfte einzurichten und offensichtlich unbegründete Asylanträge innerhalb von sechs Wochen abzuweisen. In der Praxis scheiterten diese Maßnahmen jedoch an unzureichenden personellen Kapazitäten. SPD-geführte Länder und die Bundesregierung schoben sich die Verantwortung dafür gegenseitig zu. Pahlke, S. 84-90. Im Schweriner Innenministerium etwa wurde die Forderung, Asylanträge innerhalb von sechs Wochen abzuarbeiten, angesichts eines Mangels an qualifizierten Beamten und Juristen als utopisch bezeichnet. Vgl. o.A.: Asylpläne Bonns sind utopisch. Ostsee-Zeitung vom 19. Oktober 1991, S. 1.
(15) Pahlke, S. 97-103.
(16) Pahlke, S. 99. Herbert, S. 311, verweist auf den Versuch der SPD, sich in Bremen mit einer Anti-Asyl-Politik zu profilieren, was letztendlich der DVU nutzte.
(17) Kaberka, Frauke: Asylanten strömen an die Ostsee. Rostock ist Schleuse und Verteilerstelle zugleich. Ostsee-Zeitung vom 25. Oktober 1990, S. 3.
(18) Zit. nach Landtag Mecklenburg-Vorpommern: Votum der Fraktion der SPD zum Abschlußbericht des 2. Untersuchungsausschusses – Drucksache 1/3771 – nach Artikel 34 der vorläufigen Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern und dem vorläufigen Untersuchungsausschußgesetz gemäß den Beschlüssen des Landtages vom 28. August 1992 und 10. September 1992. Drucksache 1/3794 vom 10.11.93, S. 6.
(19) O.A.: Ausländer reagierten mit Besonnenheit. Asylbewerberheim in Stralsund überfallen. Ostsee-Zeitung vom 30. September 1991, S. 3.
(20) Koslik, Stefan: Thema verfehlt. Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 17. Oktober 1991, S. 4, sowie wohl vom gleichen Autoren S.K.: Welle der Gewalt überrollt das Land. Parlament resümiert Machtlosigkeit. Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 17. Oktober 1991, S. 4.
(21) O.A.: Nach Welle der Gewalt ruhiges Wochenende. Politikerstreit um Asylrecht geht weiter. Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 21. Oktober 1991, S. 3.
(22) Schmidt, Jochen: Der Brandanschlag von Rostock-Lichtne hagen im august 1992. Magisterarbet im Fach Politikwissenschaften. Marburg 1998, S. 23.
(23) Landtag, Zwischenbericht des 2. Untersuchungsausschusses, S. 22.
(24) Landtag, Zwischenbericht des 2. Untersuchungsausschusses, S. 25.
(25) Zit. nach Schmidt, Brandanschlag, S. 24.
(26) Landtag, Zwischenbericht des 2. Untersuchungsausschusses, S. 22.
(27) Schmidt, Brandanschlag, S. 32.
(28) Funke, S. 153. Der Autor beruft sich hierbei auf einen Offenen Brief des damaligen Pressesprechers der SPD Knut Degner, den dieser nach den Ereignissen schrieb.
(29) Etwa in Schubert, Sabine: Es stinkt gen Himmel in Lichtenhagen. Einwohner protestieren gegen Camp auf der Wiese. Norddeutsche Neueste Nachrichten / Warnemünde und Umgebung vom 26. Juni 1992, S. 11.
(30) Zit. nach Schmidt, Brandanschlag, S. 27.
(31) O.A.: Lichtenhäger Kessel brodelt. Anwohner fordern Schließung des Asylbewerberheims. Norddeutsche Neueste Nachrichten / Warnemünder Zeitung vom 21. August 1992, S. 11.
(32) O.A.: Lichtenhäger wollen Protest auf der Straße. Ostsee-Zeitung, Lokalausgabe für die Hansestadt Rostock, vom 21. August 1992, S. 9.
(33) Schmidt, Jochen: Politische Brandstiftung. Berlin 2002, S. 28. Während Schmidt von 2.000 Menschen und die Polizei von 1.000 Schaulustigen und 300 „Störern“ sprechen, schwanken die Angaben in der Lokalpresse zwischen 1.500 und 5.000 Menschen. Im Stadtteil Lichtenhagen lebten insgesamt 20.000 Einwohner.
(34) Cleary; Saunders: The truth lies in Rostock.
(35) Schmidt, Politische Brandstiftung, S. 32-36; Schmidt, Brandanschlag, S.42-45; Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Zwischenbericht, S. 42-47.
(36) Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Zwischenbericht, S. 35.
(37) Schmidt, Brandanschlag, S. 46.
(38) Schmidt, Brandanschlag, S. 48-55 sowie Schmidt, Politische Brandstiftung, S. 69-147.
(39) Vetter, Ulrich Ben: Nächtlicher Angriff auf Ausländerheim. Norddeutsche Neuste Nachrichten vom 24.August 1992, S. 4.
(40) Koslik, Stefan: Sicherheitsgeschwätz. Innenminister Kupfer bei erster Bewährungsprobe. Kommentar in den Norddeutschen Neuesten Nachrichten vom 25. August 1992, S. 2.
(41) Schultz, Helmut: Wo die Götter ausziehen, ziehen die Dämonen ein. Wenn die Politik versagt, ergreifen Rechtsradikale die Initiative und stoßen als selbsternannte Ordnungshüter in das Vakuum vor. Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 25. August 1992, S. 3.
(42) Funke, Brandstifter, S. 161-162.
(43) Für einen Überblick der Berichterstattung sei verwiesen auf Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (Hrsg.): SchlagZeilen. Rostock: Rassismus in den Medien. 2., durchgesehene Auflage, Duisburg 1993.
(44) Pahlke, S. 106-107.
(45) Pahlke, S. 109-114.
(46) Pahlke, S. 116-120.

 

Quelle:

Prenzel, Thomas (2012). Rostock-Lichtenhagen im Kontext der Debatte um die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl. In Prenzel, Thomas (Hrsg.): 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen – Kontext, Dimensionen und Folgen der rassistischen Gewalt. https://www.ipv.uni-rostock.de/fileadmin/uni-rostock/Alle_WSF/IPV/Forschung/Graue_Reihe/grauereihe32.pdf (zuletzt aufgerufen am 10.11.2017).

Hintergrund

Hörspiel von Dan Thy Nguyen: Sonnenblumenhaus

1992 belagerten hunderte Neonazis und tausende AnwohnerInnen eine Erstaufnahmestelle für Asylsuchende und einen angrenzenden Wohnblock ehemaliger vietnamesischer VertragsarbeiterInnen in Rostock-Lichtenhagen. Über Tage heizte sich die Stimmung auf, ohne dass die Polizei nennenswert intervenierte. Schließlich flogen Brandsätze und die Gebäude wurden gestürmt. Das Hörspiel dokumentiert das größte und fast vergessene rassistische Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte und schildert die Sicht der Überlebenden.

Hörspiel von Dan Thy Nguyen und Iraklis Panagiotopoulos mit Claudiu M. Draghici, Jan Katzenberger, Djamila Manly-Spain.

Hörspiel zum Download: freie-radios.net

Foto: danthy.net

Hintergrund

Fünf Monate "Antirassistisches Zentrum" - Die Besetzung der TU Berlin 1991/92

In Reaktion auf das Pogrom von Hoyerswerda besetzten am 24. Oktober 1991 rund 50 AktivistInnen aus der autonomen antirassistischen und antifaschistischen Szene den dritten Stock des Mathegebäudes der Technischen Universität (TU) Berlin und gründeten dort ein Antirassistisches Zentrum. Damit sollte ein konkreter Schutzraum für alle Asylsuchenden geschaffen werden, die aus Angst vor rassistischen Angriffen aus den neuen Bundesländern nach Berlin und in die alten Bundesländer flohen. Durch politischen Druck sollte das System der Zwangsverteilungen und Residenzpflicht, mit dem Flüchtlinge von West- nach Ostdeutschland verteilt wurden, gestoppt werden. Die Journalistin Heike Kleffner zeichnet in ihrem Gastbeitrag die Entstehungsgeschichte des Zentrums nach und schildert den schwierigen politischen Kampf der Beteiligten. Eine ungekürzte Version des Textes erschien in der Broschüre "Berliner Zustände – Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus im Jahr 2013".

Die Vorgeschichte des Antirassistischen Zentrums

Der Kern der autonomen BesetzerInnen des Antirassistischen Zentrums hatte sich im August 1991 durch die Unterstützung von Flüchtlingen und ehemaligen VertragsarbeiterInnen aus Hoyerswerda zusammengefunden. Nach den ersten Berichten über die beginnende Pogromstimmung in Hoyerswerda Mitte August 1991 (1) vor dem Heim der mosambikanischen Vertragsarbeiter war am Ende der ersten Woche der Angriffe ein erster Konvoi autonomer AntifaschistInnen und antirassistischer AktivistInnen gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen wie der Internationalen Liga für Menschenrechte und kirchlichen Antirassismus- und Flüchtlingsunterstützungsgruppen nach Hoyerswerda gefahren.

Es gab einige Gespräche mit VertragsarbeiterInnen und Flüchtlingen, die deutlich machten, dass sie nicht länger in Hoyerswerda bleiben wollten. Konfrontationen mit dem rassistischen Mob fanden allerdings nicht statt. Bürgerliche und kirchliche Bündnisse sowie einige überregionale Medien appellierten stattdessen an die Polizei und politisch Verantwortlichen in Sachsen, die rassistischen Angriffe zu unterbinden. Und auch viele unabhängige antifaschistische und antirassistische AktivistInnen gaben sich zu diesem Zeitpunkt noch der Illusion hin, dass die Exekutive tatsächlich im Sinne der Angegriffenen handeln würde.

Erst nachdem die Flüchtlinge und VertragsarbeiterInnen am 21. September 1991 mit Polizeieskorten Hoyerswerda verließen, machten sich autonome AktivistInnen aus Berlin wieder auf den Weg nach Sachsen, um die Flüchtlinge, die von der Polizei in völlig abgelegenen Unterkünften in Weißwasser und Meißen zum Teil gegen ihren erklärten Widerstand einfach abgeladen worden waren, zu suchen und ihnen Unterstützung anzubieten. Innerhalb von zwei Tagen nutzten 48 Flüchtlinge die Unterstützungsangebote, um Sachsen zu verlassen und ins sicherere Berlin zu fliehen – wo sie in autonomen Hausprojekten und besetzten Häusern eine erste Unterkunft fanden. Zwei Gruppen der Flüchtlinge kamen aus dem damals vom Bürgerkrieg zwischen der staatssozialistischen Regierung und den vom Apartheid-Regime in Südafrika unterstützten UNITA-Rebellen zerrissenen Angola und dem unter einer Militärdiktatur leidenden Ghana – und waren dort politisch in der Opposition aktiv gewesen.

Appell der Flüchtlinge aus Hoyerswerda

Am 1. Oktober 1991 besetzten dann rund 50 AktivistInnen und FreundInnen der "Koordination Autonomer Flüchtlingsgruppen" die Passionskirche am Marheinekeplatz in Berlin-Kreuzberg. Die Forderungen: Eine sofortige Aufnahmegarantie für die Geflohenen in Berlin und Sozialhilfeleistungen an ihrem aktuellen Aufenthaltsort. Bis zu einer politischen Entscheidung des Berliner Senats sollte die evangelische Kirche den Flüchtlingen eine gemeinsame Unterbringung ohne Zersplitterung der Gruppe gewährleisten. Die Hoffnung der BesetzerInnen: mit Hilfe der Kirchen und bürgerlicher Bündnispartner diese Forderungen durchzusetzen. Tatsächlich bot die evangelische Landeskirchenleitung eine Woche später – während mehrere tausend AntifaschistInnen in der nunmehr von Neonazis bundesweit bejubelten ersten "ausländerfreien Stadt" Hoyerswerda demonstrierten – der Gruppe der 48 Geflüchteten aus Hoyerswerda die Villa des verstorbenen Bischofs Kurt Scharf in Dahlem als Unterkunft an. Die NachbarInnen in Dahlem gründeten daraufhin erst einmal eine Bürgerinitiative gegen die Flüchtlinge – mit der Begründung, durch deren Einzug würden Neonazis ins beschauliche Dahlem gelockt. (2) Es bleibt unklar, ob der Druck der Bürgerinitiative auf ihre FreundInnen im Berliner Senat oder die zähen Verhandlungen der Geflüchteten mit Kirchen- und Senatsvertretern Ausschlag gebend waren: Jedenfalls verließen die 48 Binnenflüchtlinge nach nur drei Wochen Aufenthalt die bischöfliche Villa in Dahlem wieder: Sie hatten vom Berliner Senat tatsächlich eine auf zunächst zwei Monate befristete "vorläufige Aufenthaltsgenehmigung" in Berlin erhalten und wurden nach Herkunftsländern aufgeteilt in Gruppen in mehreren Flüchtlingsheimen in innerstädtischen Bezirken untergebracht.

Der rassistische Flächenbrand nach Hoyerswerda und die Kämpfe der Binnenflüchtlinge

Die Botschaft von Hoyerswerda, dass es keinerlei staatlichen Schutz für Flüchtlinge und MigrantInnen geben würde und damit verbunden auch keinerlei Strafverfolgung für rassistische TäterInnen, breitete sich wie ein Flächenbrand aus: 1.483 rechtsextreme Gewalttaten registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) am Ende des Jahres 1991, 1992 stieg die Zahl um mehr als das Doppelte auf 2.584. Angesichts der massiven Dunkelfelder bei rechten Gewalttaten in den frühen 1990er Jahren muss man davon ausgehen, dass diese Zahlen nur einen winzigen Ausschnitt der Realität widerspiegeln. Rassistische GelegenheitstäterInnen und organisierte Neonazis griffen an jedem Wochenende Flüchtlingsunterkünfte an und entsprechend leisteten Flüchtlinge aus westdeutschen Sammelunterkünften häufig schon bei ihrer erzwungenen Abfahrt in ostdeutsche "Dschungelheime" kollektiven Widerstand gegen die Zwangsumverteilung. Gleichzeitig flohen mehr und mehr Zwangsverteilte aus den ostdeutschen Heimen auf eigene Faust nach Berlin und suchten dort Kontakt zu der Gruppe der Hoyerswerda-Flüchtlinge und ihren autonomen UnterstützerInnen.

Um auf die rechtlich und materiell völlig prekäre Situation dieser Doppel- oder Binnenflüchtlinge aufmerksam zu machen und gleichzeitig tatsächliche Schutzräume zu schaffen, kam es schlussendlich am 24. Oktober 1991 zur Besetzung des 3. Stocks des Mathegebäudes an der TU Berlin und der Gründung des "Antirassistischen Zentrums" (ARZ). An der Besetzung waren von Anfang an kurdische, türkische, iranische und palästinensische MigrantInnenorganisationen ebenso beteiligt wie autonome AktivistInnen aus der unabhängigen Antifa-Bewegung und aus antirassistischen Gruppen: Innerhalb weniger Wochen wuchs die Zahl der Geflüchteten, die im ARZ Schutz suchten auf mehr als einhundert Frauen, Männer und Kinder. Sie kamen vor allem aus den damaligen Krisen- und Bürgerkriegsstaaten wie Iran, Afghanistan, Pakistan, Guinea, Irak, Nepal, ex-Jugoslawien und Äthiopien, Militärdiktaturen wie Ghana oder flohen vor Folter und Haft in der Türkei wie viele kurdische AktivistInnen der frühen 1990er. Oder hofften in Deutschland als Roma der Diskriminierung, rassistischen Gewalt und Pogrome in Bulgarien und Rumänien der Nachwendezeit zu entkommen. Trotz vieler Differenzen – in Sprachen, Geschlecht, Alter, persönlichen Gründen für die Flucht nach Deutschland, politischer Organisierung im Herkunftsland und in Deutschland – gelang es durch ein tägliches Plenum mit vielen DolmetscherInnen unterschiedlichster Herkunft einen gemeinsamen Entscheidungsraum für alle BewohnerInnen zu schaffen, in dem auch die politischen Aktionen der Folgemonate entschieden wurden. „In den Flüchtlingsheimen, aus denen wir geflohen sind, gab es keine Sicherheit. Jeden Tag haben wir mit der Angst gelebt, den Tag nicht zu überleben. Wir sind aus unseren Ländern vor dem Tod geflohen. Hier haben wir erst Recht keine Lust zu sterben,“ erklärten die BesetzerInnen. „Hier in der TU glauben wir endlich einen Ort gefunden zu haben, von wo aus wir unsere Stimme an die Öffentlichkeit richten können.“ (3)

Solidarität und Abwehr

Innerhalb der Technischen Universität waren die Reaktionen sehr unterschiedlich: Materielle und politische Unterstützung kam fast ausschließlich vom AStA. Das Studentenwerk, das anfangs täglich eine kostenlose Mahlzeit für 25 BesetzerInnen anbot, beendete die Unterstützung nach einem knappen Monat. Dennoch gelang es durch Spenden knapp sechs Monate lang, die Versorgung der zeitweise mehr als 150 BewohnerInnen zu sichern, die in elf Seminarräumen lebten – aufgeteilt nach Familienzusammenhängen, Herkunftsländern und Sprachräumen.

Presseerklärung Autonomer Flüchtlingsgruppen

Aber auch 25 HochschullehrerInnen solidarisierten sich in einer namentlichen Erklärung und forderten vom CDU/SPD-Senat ein Bleiberecht für die BesetzerInnen in Berlin. Ambivalenter war die Haltung des TU-Präsidiums gegenüber den BesetzerInnen: "Die Leitung der Technischen Universität hat den Senat der Stadt aufgefordert, sich um eine angemessene und sichere Unterbringung der rund 60 auf dem Campus der Hochschule lebenden Flüchtlinge zu kümmern. Die TU selbst könne die Situation nicht grundlegend ändern, hieß es in einer am Dienstag verbreiteten Pressemitteilung," berichtete die taz beispielsweise knapp einen Monat nach Beginn der Besetzung. (4) Gleichzeitig versuchte das TU-Präsidium aber auch wiederholt unter Verweis auf die "unhaltbaren Zustände“ in den elf Seminarräumen des ARZ und mit der Androhung einer polizeilichen Räumung, die BesetzerInnen zum Auszug aus dem Mathegebäude zu bewegen. 44 Flüchtlinge reagierten auf das Ultimatum des TU-Präsidiums und die Verweigerungshaltung des Berliner Senats am 13. November 1991 mit einem zunächst befristeten Hungerstreik und konnten so eine Räumung verhindern. Schlussendlich verzichtete das TU-Präsidium auf eine Räumung, die Verhandlungen um alternative Räume innerhalb der TU blieben aber erfolglos.

Von Anfang an setzten die BewohnerInnen des ARZ und ihre UnterstützerInnen auf öffentlichkeitswirksame Aktionen, um auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Knapp zwei Wochen nach Beginn der Besetzung zogen die BesetzerInnen zum SPD-geführten Sozialsenat und verlangten von der damaligen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer die Zusicherung, in Berlin bleiben zu können. Über die Reaktion der damaligen SPD-Senatorin schreibt die taz: "Die Senatorin verwies auf die Aufnahmekapazitäten der Stadt, die bereits überfordert seien. Es sei angesichts der gespannten Haushaltslage nicht möglich, neue Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen." (5)

 

Lippenbekenntnisse von PolitikerInnen

Auch in den kommenden Monaten unternahmen SPD-PolitikerInnen jenseits von zögerlichen Lippenbekenntnissen nichts, um die unnachgiebige Haltung des CDU-Koalitionspartners und insbesondere dessen Innensenators Heckelmann aufzubrechen. In der sechsten Woche der Besetzung schrieb die taz über eine öffentliche Veranstaltung des ARZ im Schöneberger Rathaus: "Immer noch bemüht sich das Antirassistische Zentrum gemeinsam mit der Leitung der Technischen Universität um ein Gespräch mit Innensenator Heckelmann. Das machten gestern Unterstützer wie auch der Vizepräsident der TU, Wolfgang Neef, bei einem Gespräch im Rathaus Schöneberg deutlich. ‚Keine ruhige Weihnachtspause für den Innensenator, solange es keine politische Lösung für die Flüchtlinge in der TU gibt‘, forderten sie. Vertreter von Bündnis 90/ Grüne, der PDS sowie des Neuen Forums unterstützten das Begehren. Zum Gespräch nicht erschienen war gestern der eigentliche Ansprechpartner in Sachen Bleiberecht: Innensenator Heckelmann. TU-Vizepräsident Neef äußerte seine Enttäuschung über Heckelmanns wochenlanges Schweigen. Mit einem Brief an den Regierenden Bürgermeister Diepgen versuche der Akademische Senat der TU nun, den Berliner Senat zum Handeln zu bewegen. ‚Es geht hier nicht mehr um eine parteipolitische Frage, sondern um elementare Menschenrechte. Seminarräume sind auf Dauer kein geeigneter Unterbringungsort.‘

Eckhardt Barthel, ausländerpolitischer Sprecher der SPD, wurde aufgefordert, sich in der großen Koalition für eine humane Lösung für die 80 Flüchtlinge in der TU einzusetzen. Der sieht zwar die Notwendigkeit eines Gesprächs, nicht aber die Zuständigkeit seiner Fraktion, einen derartigen Termin zu organisieren." (6) SPD-Politiker begründeten ihre Ablehnung eines Aufenthaltsrechts für die Binnenflüchtlinge in Berlin auch damit, dass man Neonazis keine „Erfolgserlebnisse“ bieten dürfe, indem man Flüchtlinge nicht mehr in den Osten schicke. Zudem könne es schlicht nicht hingenommen werden, wenn Flüchtlinge sich ihren Aufenthaltsort selbst aussuchen könnten.

Schwierige Verhältnisse

Die Hoffnungen der BesetzerInnen und ihrer UnterstützerInnen auf eine schnelle politische Lösung wurden ebenso schnell enttäuscht. Der Stress, auf engem Raum mit vielen unterschiedlichen Menschen zu leben – von denen lediglich eine Minderheit Erfahrung in politischen Organisationen hatte – und die Ungewissheit, wie ihre Zukunft aussehen würde, zehrten an den Nerven aller Beteiligten. Autonome Gruppen, die sich nicht an dem Unterstützungsnetzwerk beteiligten, kritisierten zudem, dass innerhalb weniger Wochen ein "autonomes Flüchtlingsheim" entstanden sei, dessen politische Forderungen von Woche zu Woche in einer breiten Öffentlichkeit weniger Gehör fanden. Die Konflikte im Inneren des ARZ eskalierten zum Jahreswechsel 1991/1992 nach einer Vergewaltigung bei einer Silvesterparty.

Antirassistische Initiative e.V.: Rückblick auf die Besetzung

Danach teilte sich das zuvor gender- gemischte Flüchtlings- und UnterstützerInnen-Plenum in ein Frauen-Plenum, ein Männerplenum und ein gemischtes Plenum und die BesetzerInnen und ihre UnterstützerInnen intensivierten ihre Suche nach einer "Exit"-Strategie – immer noch in der Hoffnung auf eine angemessene Lösung für alle. So wurde schließlich am 1. Februar durch die mehrere Stunden andauernde Besetzung der SPD-Parteizentrale in der Müllerstraße im Wedding ein Gespräch mit dem damaligen SPD-Landesvorsitzenden Walter Momper, weiteren VertreterInnen der SPD-Führung und der damaligen Integrationsbeauftragten des Senats, Barbara John (CDU), durchgesetzt. Mit zweifelhaftem Ergebnis: Momper warf den Flüchtlingen vor, sie "inszenierten eine Schau für die Öffentlichkeit", ihre Forderungen seien "unseriös" und "ein bisschen hohl". (7) "Nach drei Monaten in der TU fordert die Flüchtlingsgruppe immer noch ein Bleiberecht für alle in Berlin. Immer wieder, so die Flüchtlinge, würde die SPD ihnen bei dieser Forderung die Tür vor der Nase zuschlagen. Es scheint, als ob Recht in Deutschland seine Bedeutung verloren hätte", beschreibt die taz die Perspektive der BesetzerInnen. "’Wir wollen keine Gespräche mehr, sondern konkrete Angebote’, erregte sich einer und brüllte Momper entgegen: ‚Sie präsentieren uns ihre Scheinargumente doch nur, um die Zeit hier rumzukriegen.’". (8) Am Ende des Gesprächs boten SPD-VertreterInnen lediglich eine Lösung aus "humanitären Gründen" auf der Basis von Einzelfallanträgen und die Einrichtung eines Runden Tisches mit BesetzerInnen, SenatsvertreterInnen und Kirchen an. Wenige Tage später betonte Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) erneut, sie lehne ein generelles Bleiberecht für die im ARZ lebenden Flüchtlinge ab. "Eine freie Ortswahl für Asylbewerber kann es nicht geben", sagte die SPD-Politikerin am 3. Februar 1992. (9)

Zersplitterung am Schluss

Knapp vier Monate nach Beginn der Besetzung nahmen 40 vor allem aus Bulgarien und Rumänien stammende BesetzerInnen mit ihren Familien ein Angebot der evangelischen Kirche an und zogen als Gruppe in ein Flüchtlingsheim nach Rangsdorf, einem brandenburgischen Dorf. Die Mehrheit der BesetzerInnen hatte das Angebot energisch als "Spaltungsangebot" abgelehnt. Die taz berichtet über die Stimmung im ARZ nach dem Auszug und den Vorwurf aus Kirchenkreisen, die UnterstützerInnen würden die Flüchtlinge für ihre Zwecke instrumentalisieren. "Das streiten die Flüchtlinge ab. ‚Wir entscheiden in unseren Plena, was wir wollen, und informieren dann die Unterstützer‘, erzählt Bob aus Iran. Das ‚Berlin- Brandenburgische Sonntagsblatt‘, evangelische Wochenzeitung, hatte kürzlich von ‚verängstigten Geiseln selbsternannter Beschützer‘ gesprochen. Die UnterstützerInnen missbrauchten Flüchtlinge und ihre Familien als ‘politisches Druckmittel‘. Die Flüchtlinge sind sauer auf alles, was mit Kirche zu tun hat. Kirchenleute hätten auch massiv versucht, die Gruppe zu spalten, erzählt Ali aus Kurdistan. ‚Sonst wären die übrigen vierzig auch noch hier.‘" (10)

Am Ende war es eine Besetzung des Roten Rathauses durch rund 70 Flüchtlingsfrauen, -kinder und Unterstützerinnen des ARZ sowie Solidaritäts-Aktionen im Bundesgebiet – wie die Besetzung des Bonner UNHCR-Büros – die Mitte März 1992 schließlich zur letzten Verhandlungsrunde mit dem Berliner Senat führte. Sichtlich zermürbt gingen die letzten 100 BesetzerInnen schließlich auf die Forderung des Innensenats ein, individuelle Einzelanträge auf eine Aufnahme ins Asylverfahren in Berlin zu stellen – um dann in kleineren Gruppen in Berliner und Brandenburger Flüchtlingsheimen untergebracht zu werden.

Vielen aus der Gruppe der 48 aus Hoyerswerda und einigen Flüchtlingen aus der Kerngruppe des ARZ gelang es aufgrund ihrer Freundschaften zu den autonomen UnterstützerInnen, sich eine Zukunft in Deutschland oder in anderen EU-Staaten zu sichern. Einige wanderten weiter. Gemeinsam sei ihnen allen gewesen, erinnerte sich Emmanuel N. aus Ghana vor drei Jahren anlässlich eines gemeinsamen Besuchs in Hoyerswerda mit ehemaligen UnterstützerInnen und FreundInnen, dass "wir uns unser Leben nicht haben aus der Hand nehmen lassen."

(1) Später stellte sich heraus, dass sich schon am 1. Mai 1990 mosambikanische Vertragsarbeiter in Hoyerswerda über hundert Angreifern gegenüber sahen, die zwei Mosambikaner schwer verletzten. Am 3. Oktober 1990 kam es dann zum ersten Angriff auf ein Wohnheim der Vertragsarbeiter.
(2) Simone von Stosch, Ausländer Raus, damit keine Skins kommen, taz Berlin vom 1.11.1991
(3) Antirassistisches Zentrum, Reader zum Städtetreffen, "Redebeitrag der Flüchtlinge auf der Bündnis-Demo am 9. November 1991", S. 6.
(4) TU fordert Senat zum Handeln auf, taz Berlin lokal vom 21.11.1991
(5) TU-Besetzer fordern Unterstützung, taz Berlin lokal vom 7.11.1991
(6) Noch keine Lösung für TU-Besetzer, taz Berlin vom 6.12.1991
(7) Jeannette Goddar, SPD hat keine Lösung für TU-Besetzung, taz Berlin vom 1.2.1992
(8) a.a.O.
(9) TU Besetzung: Eine Lösung muss her, taz Berlin vom 4.2.1992
(10) Jeannette Goddar, TU-Besetzer zwischen Hoffnung und Resignation, taz Berlin vom 13.3.1992

 

Quelle:

Kleffner, Heike (2013): Fünf Monate „Antirassistisches Zentrum“ – Die Besetzung der TU Berlin 1991/92. https://rechtsaussen.berlin/2014/04/fuenf-monate-antirassistisches-zentrum-die-besetzung-der-tu-berlin-199192/ (zuletzt aufgerufen am 29.10.2017).

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